Ein Jugendtraum geht in Erfüllung

Der zweite Teil der Geschichte um die VFR hängt mit einer ganz anderen Geschichte und mit einem ganz anderen Traum zusammen. Es dürfte im Sommer 1987 gewesen sein, als wir über einen durchgehend farbigen Bildband über Island gebeugt saßen und uns beim Betrachten der Bilder die weit aufgerissenen Augen beinahe austrockneten. Gin und Tonic spielten allerdings auch eine Rolle, warum wir am Morgen danach mit roten Labormausaugen aus der Wäsche kuckten. Mit zunehmendem Rausch hatten wir uns samt unserer Motorräder auf die Insel der Vulkane und Geysire geträumt. Es stand fest: Dort müssen wir hin! Natürlich war es eine Spinnerei. Uns war niemand bekannt, der jemals nach Island reisen durfte. Vielleicht die Fischer des Kombinates „Ostseefisch“, aber ob die dann in ihrer Freizeit mit Geländemotorrädern über die Insel heizen durften, durfte bezweifelt werden. Ob die überhaupt mal da anlegten- wer wusste es. Es ging dann allerdings alles viel schneller, als gedacht. Nachdem ich im April des Jahres 1989 die ungeliebte DDR verlassen durfte, um den 60. Geburtstag meiner Tante zu feiern und die Rückfahrkarte verfallen lassen hatte, war es im Sommer 1990 soweit. Für Island musste natürlich ein geländegängiges Motorrad her, allzu teuer durfte es auch nicht sein und so wurde es eine gebrauchte Kawasaki KLR 650. Die hat mich dann auf vielen Reisen treu begleitet, bis sie mir in den schönen wilden Zeiten in Leipzig, die Clemens Meyer so eindrucksvoll beschreibt (Lesetipp: „Als wir träumten“) vermutlich von Crash-Kids gestohlen wurde. Gefunden wurde sie später ausgebrannt und in einem derartig bedauernswürdigem Zustand, dass der Versicherungsmann am Telefon meinte: Tun sie sich den Anblick nicht an, wir lassen sie verschrotten und zahlen Ihnen den Restwert. Mit diesem bewaffnet betrat ich einen sehr großen Motorradhändler in Dresden, in der Absicht eines der Modelle mit dem blau-weißen Propeller aus dem Laden zu befreien und – da stand sie! Eine gebrauchte Honda VFR 750 F, RC 36/2 in silber mit roten Rädern. Der Vorbesitzer hatte ihr den Look einer Ducati Senna verpassen wollen, kam dann aber mit der Lenkerkröpfung nicht zurecht und hat sie nach 3000 Kilometern gegen eine Bieemmdabbelju eingetauscht. Das war’s dann. Ich konnte es nicht fassen! Eine VFR! Sie hatte sich seit dem ersten Modell etwas verändert, aber es war alles da! Die Keilform, der V4 und man hatte ihr eine wunderschöne Einarmschwinge verpasst. Mit ihrem Doppelscheinwerfer sah sie mich mit einem sexy Silberblick an und ich hörte sie geradezu, wie sie mich ansäuselte: „Nimm mich! Ich kann Dich glücklich machen.“ Hatte sie eine Augenbraue hochgezogen? Ich halluzinierte offenbar. Egal. Blöd war allerdings, dass ich seinerzeit nochmal angefangen hatte, zu studieren und an dem guten Stück noch die Zahl 14000 stand. Okay Deutsche Mark, aber die Versicherungssumme deckte gerade mal ein Drittel des Preises ab. Was soll’s, erstmal Probefahrt. Nach einer Stunde und 100 Kilometern durchs Osterzgebirge war die Entscheidung gefallen. Wir mussten ein Paar werden. Dieser seidenweiche Anzug der knapp 100 PS, den dieser Motor mit seinen vier im rechten Winkel versetzt und doppelt angeordneten Zylindern, produzierte und der in diesem prächtigen Kleid mit Reminiszenzen an Lamborghini und die NR steckte, verzückte mich vom ersten Moment an. Auch wenn ich seinerzeit noch stocksteif und quasi in Endurohaltung, ich war ja nichts anderes gewöhnt, auf dem Bock saß, war es diese erste Runde, die das VFR-Fieber, dass schon so lange in mir schlummerte zum Ausbruch brachte. Seitdem hat mich diese Sucht befallen, die den meisten VFR-Fahrern dieses Leuchten aufs Antlitz zaubert, wenn sie die säuselnde Stimme ihrer Maschine vernehmen: „Nimm mich! Ich kann Dich glücklich machen!“

Ein Jugendtraum

Die Motorpresse der Deutschen Demokratischen Republik war eigentlich nicht existent, denn sie kam in der Öffentlichkeit nicht vor. „Der Deutsche Straßenverkehr“ beispielsweise erschien in geringer Auflage und die Abonnements waren seit Jahren vergeben. Einige wenige Exemplare wechselten den Besitzer durch die Kioskfenster des staatlichen Postzeitungsvertriebes, insofern der geneigte Leser dem Zeitungshändler seines Vertrauens etwas entgegenzubringen hatte. Hier war weniger Vertrauen als vielmehr Mangelware höchst gefragt. Speziell in den heißen Sommertagen war Exportbier aus Radeberg beliebt, die Keramikfliese aus dem benachbarten böhmischen Bruderland wurde als Muster gereicht und Cenusil, eine silikonhaltige Dichtmasse wurde in grün-weißen Pappschachteln unter den Zeitungsstapeln durchgeschoben. Der Handel beinhaltete neben dem belanglosen nominalen EVP (Einzelhandelsvertriebspreis) noch das wesentlich bedeutendere Tauschgeschäft Mangelware gegen Bückware. Erstere hatte übrigens nichts mit der Glättung frisch gewaschener Bettwäsche zu tun, sondern war die übliche Bezeichnung von Produkten, deren Produktionszahlen aus verschiedensten Gründen einfach nicht für einen regulären Handel ausreichend waren. Es herrschte permanenter Mangel an diesen Dingen. Letztere Waren erhielten ihren Namen aus der Tatsache heraus, dass der Verkäufer sich bücken musste, um sie unter dem Ladentisch hervorzuholen.

Für die Freunde des motorisierten Zweirades hatte das freilich alles wenig Wert – eine Motorradzeitschrift war schlicht nicht im Handel. Allerdings gab es einen klitzekleinen Lichtblick: Die Zeitschrift „Jugend+Technik“ aus dem Verlag „Junge Welt“, der missliebigen „Freien Deutschen Jugend (FDJ)“, die offiziell als Kampfreserve der Partei bezeichnet wurde. Die Technikpostille war im Grunde unlesbar, da voll von Produktionserfolgen, Jugendprojekten und Artikeln über das Weltspitzenniveau der sozialistischen Produktion. Alles Käse, aber es ging uns Zweitaktpiloten damals ausschließlich um die Rückseite (!). Dort waren ab und an Motorräder aus „internationaler Produktion“ im Hochglanzdruck abgebildet. Die Bilder waren heiß begehrte Objekte, die zügig zur Dekoration des eigenen Kinderzimmers gerahmt und an die Wand gehängt wurden. Die realen Objekte waren so unerreichbar wie bis ins Detail bekannt. Kreidler, KTM, BMW R75 R, Benelli mit Sechszylinder-Reihenmotor, alles unerreichbare Träume. Aber eines Tages traf mich der Blitz! Die erste Honda VFR 750 F! Vierzylinder-90-Grad-V-Motor und eine Keilform, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Eine Linie zog sich auf weißem Perlmuttlack von der Keilverkleidung bis zum Höcker und vor dem Lenker spannte sich eine knappe Verkleidung. In goldenen Lettern stand „VFR“ auf der Verkleidung. Ich sehe das Motorrad heute noch vor mir. Es war um mich geschehen! Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts im jetzt bereits zurückliegenden Jahrtausend war das, als es um mich geschehen war. Dieses Motorrad musste ich eines Tages haben. Ich ging noch zur Schule, es gab in Berlin eine Mauer und durch Deutschland einen unüberwindbaren Zaun. Zu kaufen gab es dieses Motorrad nicht für Geld und gute Worte im Osten Deutschlands. Aber ich musste es haben, egal wie, egal wann.